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Über das Ende der Fotografie wie wir Sie kennen

„MEMORIES“ Erinnerungen an Menschen & Orte Videoinstallation, 90 min. Erinnerungen verblassen nicht mehr. Erinnerungen an Menschen & Orte lösen sich auf. Farbkanäle verschieben sich, Bildinformationen informieren nicht, Sie werden gelöscht. MEMORIES ist eine Serie von Fotografien, welche die äußere Welt nicht mehr zeigen. Anders ausgedrückt: „Das Verblassen von Erinnerungen“ ist eine Redewendung, welche sich aus der Fotografie des 19. Jahrhunderts abgeleitet hat, da es in den Anfängen der Fotografie schwer war, das (Ab)-Bild einer Person oder eines Ortes für längere Zeit haltbar auf Papier zu fixieren. Erinnerungen (Memories) an Menschen & Orte lösen sich auf, spalten sich in Kolonnen aus Einsen & Nullen. Hauptteil der Serie ist eine 90 minütige Videoinstallation, mit Ausschnitten aus digitalen Fotografien, die durch einen Festplattenabsturz zerstört wurden. Die Fotos sind animiert, laufen zu einer Soundkollage als Film ab. Auch wenn sich die einzelnen Motive häufig wiederholen, handelt es sich nicht um einen Loop. Kein Bild wird zweimal im gleichen Ausschnitt gezeigt. Die Gesamtdauer entspricht der Standardlänge eines Spielfilms. Zu sehen sind ungegenständliche Bilder, die nichts mehr mit herkömmlicher Fotografie zu tun haben, eher an verschiedene Richtungen der abstrakten Malerei erinnern, aber dennoch als Fotos zu bezeichnen sind. Es sind Fotos die sich selbst "zusammengesetzt" haben, fast wie bei der Écriture automatique der Surrealisten, oder ähnlich der Cut Up Methode von William S. Burroughs. Sie zeigen kein Abbild der Wirklichkeit, sie reproduzieren nicht. Ist das noch Fotografie? Oder ist Fotografie immer auf ein reales Stück aus dem Leben angewiesen? Oder kann sie auch aus sich selbst heraus erfinden? Wenn man bei der analogen Kamera noch von einem Geist in der Maschine sprechen konnte ("Ghost in the Machine", von Descartes bis The Police), haben wir es jetzt mit einer "Machine in the Ghost" (Burnt Friedmann feat. Barbara Pant) zu tun. „ Mit seinen Projekten „Über das Ende der Fotografie wie wir sie kennen“ und „Memories“ bringt Wolfgang Kampz eine alte Wahrheit auf einen aktuellen Punkt: Was uns ein Bild nicht zeigt, ist mindestens so wichtig wie das, was wir sehen. Kampz zeigt uns Bilder, die gerade durch das, was sie nicht (mehr) zeigen unmittelbar auf die Unendlichkeit der Bilder verweisen, mit der wir es heute zu tun haben. Was wir sehen, erinnert bisweilen beispielsweise an die abstrakten Bilder Gerhard Richters. Vielleicht ist das kein Zufall, denn was Kampz uns vorführt, lässt sich in einer Analogie dazu sehen, was Richter mit seinem auf zufälligen Farbreihungen beruhenden abstrakten Kirchenfenster im Kölner Dom gelungen ist: eine Anschauungsform für die Idee der (Un)sichtbarkeit und (Un)endlichkeit zu finden, die der heutigen Zeit entspricht.“ Ludwig Seyfarth “MEMORIES” Souvenirs de personnes et de lieux Installation vidéo, 90 min. Les souvenirs ne blêmissent plus, les souvenirs de personnes et de lieux se dissolvent. Les canaux chromatiques se décalent, les informations visuelles n’informent pas, elles sont effacées. MEMORIES est une série de photographies qui ne montrent plus le monde extérieur. Autrement dit : « le blêmissement des souvenirs» est une expression dérivée de l’art photographique du 19° siècle, quand il était encore difficile de fixer l’image d’une personne ou d’un lieu sur papier de façon durable. Les « Souvenirs de personnes et de lieux » [Memories] se dissolvent, se scindent en colonnes de Uns et de Zéros. Pièce principale de la série, une installation vidéo de 90 minutes présente des détails de photographies digitales ayant été détruites au moyen d’une « chute du disque dur ». Animées, les photographies se déroulent sur fond de collage sonore, à la manière d’un film. Même si les motifs se répètent souvent, il ne s’agit pas d’une boucle. Aucun détail n’est montré deux fois. La durée du film correspond aux standards du long-métrage. On y voit des images non figuratives n’ayant plus rien avoir avec la photographie conventionnelle, rappelant plutôt certaines directions prises dans la peinture abstraite, que l’on ne peut cependant qualifiée autrement que de photographies. Il s’agit de photographies qui se sont « composées » d’elles-mêmes selon une méthode s’approchant de l’écriture automatique des surréalistes ou du Cut Up de William S. Burroughs. Elles n’offrent pas une représentation de la réalité, elles ne la reproduisent pas. Est-ce encore de la photographie ? La photographie doit-elle toujours être reconductible à une portion de réel ? Ou peut-elle aussi (s’)inventer par elle-même ? Si, dans le contexte de la caméra analogique, l’on pouvait encore parler d’un fantôme dans la machine (« Ghost in the Machine », depuis Descartes jusqu’à The Police), nous avons désormais affaire à une « Machine in the Ghost » (Burnt Friedman feat. Barbara Pant). „Avec ses projets „Über das Ende des Fotografie wie wir sie kennen“  (À propos de la fin de la photographie telle que nous la connaissons) et „Memories“ Wolgang Kampz réactualise une vérité ancienne : ce qu’une photo ne nous montre pas est au moins aussi important que ce que qu’elle nous donne à voir. Ce que les images de Kampz ne nous montrent pas (ou plus) renvoie directement à l’infinité des images à laquelle nous sommes confrontés aujourd’hui. Ce que l’on voit rappelle par moments les images abstraites de Gerhard Richter. Mais peut-être n’est-pas un hasard puisque l’on peut, en effet, voir une analogie entre ce que nous propose Kampz et le résultat auquel est parvenu Richter par le biais de juxtapositions aléatoires de couleurs dans les vitraux abstraits de la cathédrale de Cologne : trouver une forme qui permette de contempler l’idée d’(in)visibilité et d’(in)finitude en conformité avec les temps actuels.“ Ludwig Seyfarth

Die Wärter

Die Wärter ist eine Porträt Serie von Museumswärter_innen (Galerie der Gegenwart, Hamburger Kunsthalle, Deichtorhallen Hamburg) von 2007. Die Wärter_innen wurden mit einer Hasselblad H3D2 porträtiert, zu diesem Zeitpunkt die Kamera mit der größten und schärfsten Bildauflösung, welche Ausstellungsabzüge in 100% Schärfe von 150X200 cm ermöglichte. „Die Wärter“ sind Personen aus allen Gesellschaftsschichten, Rentner, Studenten, ABM-Kräfte, oder Angestellte professioneller Sicherheitsfirmen. Sie sind jene Personen welche, zumindest zeitlich, den größten Kontakt zu den ausgestellten Kunstwerken haben. Diese Personen werden in der „Kunstwelt“ zumeist nicht, oder nur kaum, wahrgenommen. In wiefern spiegeln sich die Kunstwerke in den Gesichtern der Wärter_innen wieder. Parallel zu der fotografischen Serie entstand ein Film mit Interviews und Statements der porträtierten Personen.

Aussicht

Sehr geehrter Herr Seyfarth, es ist heiß, sehr heiß. Ich liege auf einem Bett, an der Decke dreht sich ein Ventilator, der die Luft bewegt. Ich stehe auf um etwas zu trinken, gehe mit dem Zahnputz Becher in der Hand zum offen Fenster, die Hände sind feucht vom Schweiß, das Glas entgleitet ihnen, fällt …   „Saigon. Noch immer bin ich in Saigon. Als ich nach meinem ersten Jahr nach Hause kam, war es schlimmer. Da erwachte ich & nichts war da. Wenn ich hier war, wollte ich dort sein. Wenn ich hier war dachte ich an nichts anderes als wieder zurück zu gehen. Ich bin jetzt seit einer Woche hier. Warte auf meinen Einsatz. Werde allmählich mürbe. Jede Minute die ich in diesem Raum verbringe macht mich kraftloser. Jedes Mal wenn ich mich umblicke rücken die Wände etwas näher zusammen. Jeder bekommt was er verdient. Ich wollte einen Auftrag & es war ein wirklich erlesener Auftrag & als er zu Ende war wollte ich nie wieder einen“. … während ich dem Fall des Glases zusehe, denke ich so etwas, es war ein Film, aber ich bin wirklich hier. Seit ich Ihren Auftrag angenommen habe, den Notausgang am Horizont zu suchen, bin ich viel gereist & habe viel gesehen. Ich habe mich immer an ihren Ratschlag gehalten, wohne wenn möglich, ausschließlich in Hotelzimmern mit Balkon & wechsle meine Socken täglich. Die Wahl des Hotels, des richtigen Raumes & die des Balkons ist für meine Mission entscheidend, denn so kann ich gleich nach dem aufwachen & spät in der Nacht noch einmal den Horizont absuchen.  Ich habe den Irrawaddy mehrfach überquert, den Mekong bin ich hochgefahren, wurde von Moskitos gestochen, von Bettwanzen gebissen, den Ratten in der Holzdecke meines Zimmers habe ich gelauscht, habe schlechtes Essen in Yangon gegessen & bin durch Indochina 5200 km mit alten Bussen gefahren. Habe nach ihren Koordinaten Vietnam, Kambodscha, Laos, China, Frankreich, Österreich, Spanien, Italien, Portugal, die Türkei & sogar Burma bereist. Immer auf der Suche, den Blick auf den Horizont gerichtet. Zum Anfang zog ich mit einem großen Hunger los, Sehnsucht trifft es wohl am besten, dann wurde die Sehnsucht zur Neugierde, einem Verlangen, einer Sucht & doch je weiter ich reiste, desto mehr wurde mir klar: SIE sind überall. Nirgendwo auf der Welt war ich der Erste. Überall waren SIE schon, die Backpacker, die Schmarotzer, die Immobilien Scouts & die Investoren. Je schöner, je abgelegener, je unberührter der Ort, desto eher waren Sie da. Vielleicht gab es einmal den Moment als es noch einen Notausgang am Horizont gab, jetzt hängt dort nur noch ein Schild NO VACANT. Aber ich will nicht mit ihren Hoffnungen spielen, ziehen Sie selber los & suchen. Ich habe getan was ich konnte, sehen Sie sich meine Fotos an, die ich diesem Brief beilege & urteilen Sie selber.   … das Glas zerbricht auf der Strasse. Niemand stört sich daran, immerhin, ich bin in Saigon. Mit besten Grüßen  Wolfgang B. Kampz März 2014, Halo Hotel, Room 401, Saigon, Vietnam

sex world

Wolfgang Kampz photographie SEX WORLD 360 Seiten, 350 Farbabbildungen, 16,5 x 24 cm, Hardcover, mit einem Text von Marc Fischer, EDITION BRAUS, 2001, ISBN 3-926318-52-X „WOLFGANG KAMPZ photographie ST. PAULI - Sex World" Die Reeperbahn ist, so sagt man, die sündigste Meile der Welt. Sie ist Mythos, Anziehungspunkt für Nachtschwärmer, Lebensgrundlage für Halbweltler, Inspiration für Drehbuchautoren und Anlageobjekt für potente Investoren. Sie ist gleichzeitig Kulisse und Geschäft. Von 1998 bis 2000 stand St. Pauli zudem im Mittelpunkt von Wolfgang Kampz Photographie. Auf zahlreichen nächtlichen Streifzügen entstand eine Serie von Aufnahmen, in denen es dem Künstler gelang, den modernen Mythos von St. Pauli einzufangen. „Ich selbst hatte mich immer für einen Spezialisten gehalten, was die ganzen Klubs und Bars auf dem Kiez anging; ich bildete mir ein zu wissen, zu welcher Zeit man wo sein müßte, wann im Mojo-Cafe, wann im Hans-Albers-Eck und wann in Rosie's Bar. Nachdem wir das alles durchhatten, begann Lena mir ihre Orte zu zeigen - und die unterschieden sich ziemlich stark von denen, die ich bislang kennengelernt hatte." Marc Fischer „Beim Durchblättern des Buches meint man, den Geruch der Reeperbahn zu spüren." Tom Jacobi (STERN) Gezeigt werden nächtliche Schnappschüsse, Impressionen und Portraits im Close Up. Ausschnitte und Fragmente von Neonschriften der Stundenhotels oder gemalten Pin Ups, welche den Portraits von Nachtclubbesuchern, Türstehern, StripperInnen und bekannten St. Pauli-Größen gegenübergestellt werden. „Kiez, Sex & Rock ́n ́ Roll!“ SZENE Hamburg Wolfgang Kampz ging es in seinen Bildern nicht um eine Demaskierung oder den klassischen Blick hinter die Kulissen sondern um einen Spaziergang durch ein scheinbar bekanntes Viertel, das eine eigene Sprache hat. Das Gesicht der Nacht Ludwig von Otting über den Hamburger Fotografen Wolfgang Kampz Was für eine deutsche bürgerliche Existenz ein sorgsam gehüteter, kleiner schmutziger Gedanke ist, das ist für Hamburg der Kiez. Die Freie und Hansestadt darf sicher Anspruch darauf erheben, die materialisierte Realität des fiktiven Traumes vom bürgerlichen Leben zu sein, der dunkelblaue Zweireiher zwischen den deutschen Städten, und andererseits ist der Kiez ein ausgelebter Traum, geronnen zu Fleisch, Blut und Dreck. Der Fotograf Wolfgang Kampz hat eine Dokumentation jahrelanger Streifzüge über den Kiez, durch Glitzerpaläste und miese Absteigen, durch öffentliche, halböffentliche und höchst private Örtlichkeiten vorgelegt. Zwei Themen kristallisieren sich aus den Trophäen dieser Jagden heraus: Zum einen die Abbilder der toten Welt von Reklameschildern, gezeichneten pornographischen Darstellungen und immer wieder von Installationen der Schaufensterauslagen. So entsteht eine komplette Ikonografie des Kiezes. Im übrigen geht es Kampz um Gesichter - die Gesichter derjenigen, die sich selbst gerade auf ihren Streifzügen durch Höhen und Tiefen der Lust befinden, Gesichter, die er mit einer Mischung aus Unbarmherzigkeit und Zärtlichkeit dokumentiert, die ihresgleichen lange suchen darf. „Man kann zwar besser aussehen als auf meinen Bildern, aber nicht dichter an der Wahrheit“, sagt Wolfgang Kampz Vor einem Jahr hat er das neue Thalia-Ensemble fürs Programmheft fotografiert. Neben Begeisterung für die neue Art mit Schauspielerportraits umzugehen, gab es auch Morddrohungen und Abo- Kündigungen, vor allem aber empörte Zuschriften von Menschen, die sich nach den geglätteten Portraits der Vergangenheit sehnten: "Die armen Mitarbeiter! Schlimmer als ein Horrorfilm!" Ein Satz von Kampz dazu: "Die Bilder, die ich von Leuten mache, sind immer auch Komplimente." Eines dieser Komplimente hat er auch mir gemacht. So durfte ich am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn ein Fotograf Seiten an einem aufdeckt, von denen man bisher keine Ahnung hatte. Gegen diese Porträts wirkt Hannibal Lecter wie Charlie Brown. Bei der Betrachtung mancher Bilder denkt man unwillkürlich: Wer solche Fotos schießt, muss entweder sehr schnell sein oder sehr sympathisch. Es gibt ja viele Fotografen, die bei ihrer aufopferungsvollen Arbeit verprügelt worden sind. Der berühmte Skandalfotograf WeeGee zum Beispiel. Gemocht hat ihn keiner. Wolfgang gehört einem anderen Typus an: Er ist, soweit ich weiß, nie verprügelt worden, weil sämtliche Fotos im Einverständnis, um nicht zu sagen in Harmonie, mit den jeweiligen Modellen entstanden sind. Es gibt darum keine Skandalfotos, keine unerwünschten Blicke hinter Kulissen, niemand wird "geoutet". Seine Attitüde ist durchweg zärtlich und nicht auf Skandale aus. Lustvoll zeigt er die Masken, hinter denen sich die Akteure ebenso lustvoll verstecken. Er zeigt auch die Menschen dahinter, aber immer in der Beziehung zu dem Schein, mit dem sie sich umgeben und der glitzernden Oberfläche, die sie von sich zeigen. Kampz hat hinterhältigen Spaß daran, mit diesen Selbstinszenierungen umzugehen. Gesichter seiner lebendigen Freunde der Nacht stehen neben Abbildern aus Gips, aus Holz oder aus Wachs. Häufig ist auf den ersten Blick nicht festzustellen, ob man es mit einem Foto, mit dem Foto eines Fotos oder mit dem Foto einer colorierten Reklamezeichnung zu tun hat, ob hinter der Latexmaske eine Puppe oder eine von Wolfgangs Freundinnen steckt. Diese lustvolle Verwischung der Grenzen hat natürlich Vorbilder. Kampz nennt den Schweizer Robert Frank und dessen Kultbuch "Die Amerikaner" aus den 50er-Jahren. Frank bezeichnet seinen Stil als "subjektiven Realismus"; in diesem Begriff ist die Absicht erkennbar, die Wirklichkeit nur durch die Auswahl der Motive zu interpretieren, aber nie selbst zu gestalten. Kampz‘ veristische Attitüde geht noch weiter: so dass kein einziges Bild bearbeitet wird, nicht retuschiert, nicht mit Farbfiltern behandelt. Nicht einmal Ausschnitte gestattet er sich. Jedes Bild erscheint in dem Format, in dem er es geschossen hat. Das ergibt oft irritierende Effekte, Unschärfen, über- oder unterbelichtete Partien, scheinbar willkürlich abgeschnittene Elemente. Das ergibt aber auch in der Summe seiner über 300 Seiten eine flirrende, grellbunte Ästhetik, die mir die angemessenste Darstellung der Eindrücke zu sein scheint, die man auf einem jener erwähnten Kiez- Streifzüge sammeln kann. Ich empfehle dringend, das Buch erst einmal schnell durchzublättern, sich zunächst nur eine oberflächliche Begegnung zu gönnen, oder, um einen Begriff zu verwenden, der hier nicht falsch sein kann, einen Quickie. Ich empfehle auch, sich danach einzelnen Motiven und deren Doppelbödigkeit zuzuwenden. Dafür ist das Titelfoto ein wunderbares Beispiel: Ein Reklameschriftzug: SEX WORLD, gebildet aus roten Glühbirnen, darunter ein Pfeil, der wohl auf eine Ladentür verweist. Ein Pfeil, den man ohne weiteres auch als Schamdreieck interpretieren kann. Eine marktschreierische Verheißung ist kaum denkbar. SEX WORLD - die ganze Welt der Fleischeslust. Aber es ist dies eine Verheißung des Reklameschriftzuges und nicht die des Buches. Schon jetzt erkennt man, wie schäbig nicht etwa das Verheißene, wohl aber die Verheißung selbst ist. Zahlreiche Glühbirnen sind wie ausgeschossen, das Schamdreieck ist wie von Ratten angebissen. Die Verheißung stellt sich selbst in Frage und gibt damit dem Buch einen offensichtlichen Doppelsinn. Das Motiv taucht im Innern des Buches noch einmal auf, dort allerdings ist das Wort "Sex" schnöde gegen das Wort "Spiel" ausgetauscht. Diesmal in blauen Neonbuchstaben, das Wort "World" ist nicht mehr lesbar, das Schamdreieck vollends von Motten zerfressen. "Spiel World" wirkt jetzt wie ein schlechtes Derivat der "Sex World". Man beachte den traurigen Blick des Mannes, den Kampz auf die andere Seite montiert hat. Ein schönes Beispiel für seine kompositorische Feinfühligkeit. Kenner der Szene wissen, dass der Schriftzug inzwischen verschwunden ist. "Sex World" ist untergegangen. Das würde ich nun ungern als einen moralisierenden Hinweis darauf verstanden wissen, dass die Verheißungen der Reeperbahn leer und unerfüllt seien. Es gilt allerdings sie immer wieder an neuen Orten zu suchen. Das Buch ist - noch - ungeheuer heutig. Die meisten Motive sind Kiezgängern bestens vertraut. Die Strapsbedienung in der Kastanienallee, die Imbissbude auf der Großen Freiheit, das Wachsfigurenkabinett und die Boutique Bizarre auf der Reeperbahn. Jeder von uns ist schon daran vorbeigelaufen, viele von uns waren drin, hier und oder dort. Es sollte Spaß machen, sich das Buch zu kaufen, und gegebenenfalls jemanden zu fragen, "oh, sind Sie das auf Seite 146? . . ." - schade nur, dass das Buch keine Seitenangaben enthält. Ich kann mir vorstellen, dass das Buch gerade wegen seiner kompromisslosen Heutigkeit bald ein historisches Dokument sein wird. Und zwar nicht nur, weil Neonschriften verschwunden und Gesichter alt geworden sind. Hamburg hat eine neue Regierung. Es gibt zwar keine regierungsoffiziellen Äußerungen zur Lasterhaftigkeit im Allgemeinen und zu Sonderformen des Liebesleben im Speziellen, aber es steht vielleicht zu befürchten, dass das saubermännische Gehabe der Wahlkampfzeit Vorbote einer neuen Prüderie gewesen sein könnte. Wenn in einigen Jahren auf dem Spielbudenplatz, für den die SPD 50 Jahre lang keinen Bebauungsplan hinbekommen hat, ein paar der dringend erforderlichen schmucken Bürohochhäuser stehen, wenn alle Punker im Gefängnis, alle Obdachlosen in leer stehenden Reedervillen an der Elbchaussee und alle illegalen Huren in Abschiebehaft sitzen, und wenn schließlich, um noch einen kleinen schwarzen Albtraum hinzuzufügen, unsere sexuellen Abarten per Hologramm auf dem Personalausweis vermerkt sind, dann können wir heimlich Wolfgangs Buch aus dem Regal nehmen, darin blättern und sagen: Scheiße, das war 'ne geile Zeit. Ludwig von Otting war kaufmännischer Direktor des Thalia Theaters