Wolfgang Kampz photographie SEX WORLD 360 Seiten, 350 Farbabbildungen, 16,5 x 24 cm, Hardcover, mit einem Text von Marc Fischer, EDITION BRAUS, 2001, ISBN 3-926318-52-X
„WOLFGANG KAMPZ photographie ST. PAULI - Sex World" Die Reeperbahn ist, so sagt man, die sündigste Meile der Welt. Sie ist Mythos, Anziehungspunkt für Nachtschwärmer, Lebensgrundlage für Halbweltler, Inspiration für Drehbuchautoren und Anlageobjekt für potente Investoren. Sie ist gleichzeitig Kulisse und Geschäft. Von 1998 bis 2000 stand St. Pauli zudem im Mittelpunkt von Wolfgang Kampz Photographie. Auf zahlreichen nächtlichen Streifzügen entstand eine Serie von Aufnahmen, in denen es dem Künstler gelang, den modernen Mythos von St. Pauli einzufangen.
„Ich selbst hatte mich immer für einen Spezialisten gehalten, was die ganzen Klubs und Bars auf dem Kiez anging; ich bildete mir ein zu wissen, zu welcher Zeit man wo sein müßte, wann im Mojo-Cafe, wann im Hans-Albers-Eck und wann in Rosie's Bar. Nachdem wir das alles durchhatten, begann Lena mir ihre Orte zu zeigen - und die unterschieden sich ziemlich stark von denen, die ich bislang kennengelernt hatte." Marc Fischer
„Beim Durchblättern des Buches meint man, den Geruch der Reeperbahn zu spüren." Tom Jacobi (STERN)
Gezeigt werden nächtliche Schnappschüsse, Impressionen und Portraits im Close Up. Ausschnitte und Fragmente von Neonschriften der Stundenhotels oder gemalten Pin Ups, welche den Portraits von Nachtclubbesuchern, Türstehern, StripperInnen und bekannten St. Pauli-Größen gegenübergestellt werden.
„Kiez, Sex & Rock ́n ́ Roll!“ SZENE Hamburg
Wolfgang Kampz ging es in seinen Bildern nicht um eine Demaskierung oder den klassischen Blick hinter die Kulissen sondern um einen Spaziergang durch ein scheinbar bekanntes Viertel, das eine eigene Sprache hat.
Das Gesicht der Nacht Ludwig von Otting über den Hamburger Fotografen Wolfgang Kampz
Was für eine deutsche bürgerliche Existenz ein sorgsam gehüteter, kleiner schmutziger Gedanke ist, das ist für Hamburg der Kiez. Die Freie und Hansestadt darf sicher Anspruch darauf erheben, die materialisierte Realität des fiktiven Traumes vom bürgerlichen Leben zu sein, der dunkelblaue Zweireiher zwischen den deutschen Städten, und andererseits ist der Kiez ein ausgelebter Traum, geronnen zu Fleisch, Blut und Dreck. Der Fotograf Wolfgang Kampz hat eine Dokumentation jahrelanger Streifzüge über den Kiez, durch Glitzerpaläste und miese Absteigen, durch öffentliche, halböffentliche und höchst private Örtlichkeiten vorgelegt. Zwei Themen kristallisieren sich aus den Trophäen dieser Jagden heraus: Zum einen die Abbilder der toten Welt von Reklameschildern, gezeichneten pornographischen Darstellungen und immer wieder von Installationen der Schaufensterauslagen. So entsteht eine komplette Ikonografie des Kiezes. Im übrigen geht es Kampz um Gesichter - die Gesichter derjenigen, die sich selbst gerade auf ihren Streifzügen durch Höhen und Tiefen der Lust befinden, Gesichter, die er mit einer Mischung aus Unbarmherzigkeit und Zärtlichkeit dokumentiert, die ihresgleichen lange suchen darf. „Man kann zwar besser aussehen als auf meinen Bildern, aber nicht dichter an der Wahrheit“, sagt Wolfgang Kampz Vor einem Jahr hat er das neue Thalia-Ensemble fürs Programmheft fotografiert. Neben Begeisterung für die neue Art mit Schauspielerportraits umzugehen, gab es auch Morddrohungen und Abo- Kündigungen, vor allem aber empörte Zuschriften von Menschen, die sich nach den geglätteten Portraits der Vergangenheit sehnten: "Die armen Mitarbeiter! Schlimmer als ein Horrorfilm!" Ein Satz von Kampz dazu: "Die Bilder, die ich von Leuten mache, sind immer auch Komplimente." Eines dieser Komplimente hat er auch mir gemacht. So durfte ich am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn ein Fotograf Seiten an einem aufdeckt, von denen man bisher keine Ahnung hatte. Gegen diese Porträts wirkt Hannibal Lecter wie Charlie Brown. Bei der Betrachtung mancher Bilder denkt man unwillkürlich: Wer solche Fotos schießt, muss entweder sehr schnell sein oder sehr sympathisch. Es gibt ja viele Fotografen, die bei ihrer aufopferungsvollen Arbeit verprügelt worden sind. Der berühmte Skandalfotograf WeeGee zum Beispiel. Gemocht hat ihn keiner. Wolfgang gehört einem anderen Typus an: Er ist, soweit ich weiß, nie verprügelt worden, weil sämtliche Fotos im Einverständnis, um nicht zu sagen in Harmonie, mit den jeweiligen Modellen entstanden sind. Es gibt darum keine Skandalfotos, keine unerwünschten Blicke hinter Kulissen, niemand wird "geoutet". Seine Attitüde ist durchweg zärtlich und nicht auf Skandale aus. Lustvoll zeigt er die Masken, hinter denen sich die Akteure ebenso lustvoll verstecken. Er zeigt auch die Menschen dahinter, aber immer in der Beziehung zu dem Schein, mit dem sie sich umgeben und der glitzernden Oberfläche, die sie von sich zeigen. Kampz hat hinterhältigen Spaß daran, mit diesen Selbstinszenierungen umzugehen. Gesichter seiner lebendigen Freunde der Nacht stehen neben Abbildern aus Gips, aus Holz oder aus Wachs. Häufig ist auf den ersten Blick nicht festzustellen, ob man es mit einem Foto, mit dem Foto eines Fotos oder mit dem Foto einer colorierten Reklamezeichnung zu tun hat, ob hinter der Latexmaske eine Puppe oder eine von Wolfgangs Freundinnen steckt. Diese lustvolle Verwischung der Grenzen hat natürlich Vorbilder. Kampz nennt den Schweizer Robert Frank und dessen Kultbuch "Die Amerikaner" aus den 50er-Jahren. Frank bezeichnet seinen Stil als "subjektiven Realismus"; in diesem Begriff ist die Absicht erkennbar, die Wirklichkeit nur durch die Auswahl der Motive zu interpretieren, aber nie selbst zu gestalten. Kampz‘ veristische Attitüde geht noch weiter: so dass kein einziges Bild bearbeitet wird, nicht retuschiert, nicht mit Farbfiltern behandelt. Nicht einmal Ausschnitte gestattet er sich. Jedes Bild erscheint in dem Format, in dem er es geschossen hat. Das ergibt oft irritierende Effekte, Unschärfen, über- oder unterbelichtete Partien, scheinbar willkürlich abgeschnittene Elemente. Das ergibt aber auch in der Summe seiner über 300 Seiten eine flirrende, grellbunte Ästhetik, die mir die angemessenste Darstellung der Eindrücke zu sein scheint, die man auf einem jener erwähnten Kiez- Streifzüge sammeln kann. Ich empfehle dringend, das Buch erst einmal schnell durchzublättern, sich zunächst nur eine oberflächliche Begegnung zu gönnen, oder, um einen Begriff zu verwenden, der hier nicht falsch sein kann, einen Quickie. Ich empfehle auch, sich danach einzelnen Motiven und deren Doppelbödigkeit zuzuwenden. Dafür ist das Titelfoto ein wunderbares Beispiel: Ein Reklameschriftzug: SEX WORLD, gebildet aus roten Glühbirnen, darunter ein Pfeil, der wohl auf eine Ladentür verweist. Ein Pfeil, den man ohne weiteres auch als Schamdreieck interpretieren kann. Eine marktschreierische Verheißung ist kaum denkbar. SEX WORLD - die ganze Welt der Fleischeslust. Aber es ist dies eine Verheißung des Reklameschriftzuges und nicht die des Buches. Schon jetzt erkennt man, wie schäbig nicht etwa das Verheißene, wohl aber die Verheißung selbst ist. Zahlreiche Glühbirnen sind wie ausgeschossen, das Schamdreieck ist wie von Ratten angebissen. Die Verheißung stellt sich selbst in Frage und gibt damit dem Buch einen offensichtlichen Doppelsinn. Das Motiv taucht im Innern des Buches noch einmal auf, dort allerdings ist das Wort "Sex" schnöde gegen das Wort "Spiel" ausgetauscht. Diesmal in blauen Neonbuchstaben, das Wort "World" ist nicht mehr lesbar, das Schamdreieck vollends von Motten zerfressen. "Spiel World" wirkt jetzt wie ein schlechtes Derivat der "Sex World". Man beachte den traurigen Blick des Mannes, den Kampz auf die andere Seite montiert hat. Ein schönes Beispiel für seine kompositorische Feinfühligkeit. Kenner der Szene wissen, dass der Schriftzug inzwischen verschwunden ist. "Sex World" ist untergegangen. Das würde ich nun ungern als einen moralisierenden Hinweis darauf verstanden wissen, dass die Verheißungen der Reeperbahn leer und unerfüllt seien. Es gilt allerdings sie immer wieder an neuen Orten zu suchen. Das Buch ist - noch - ungeheuer heutig. Die meisten Motive sind Kiezgängern bestens vertraut. Die Strapsbedienung in der Kastanienallee, die Imbissbude auf der Großen Freiheit, das Wachsfigurenkabinett und die Boutique Bizarre auf der Reeperbahn. Jeder von uns ist schon daran vorbeigelaufen, viele von uns waren drin, hier und oder dort. Es sollte Spaß machen, sich das Buch zu kaufen, und gegebenenfalls jemanden zu fragen, "oh, sind Sie das auf Seite 146? . . ." - schade nur, dass das Buch keine Seitenangaben enthält. Ich kann mir vorstellen, dass das Buch gerade wegen seiner kompromisslosen Heutigkeit bald ein historisches Dokument sein wird. Und zwar nicht nur, weil Neonschriften verschwunden und Gesichter alt geworden sind. Hamburg hat eine neue Regierung. Es gibt zwar keine regierungsoffiziellen Äußerungen zur Lasterhaftigkeit im Allgemeinen und zu Sonderformen des Liebesleben im Speziellen, aber es steht vielleicht zu befürchten, dass das saubermännische Gehabe der Wahlkampfzeit Vorbote einer neuen Prüderie gewesen sein könnte. Wenn in einigen Jahren auf dem Spielbudenplatz, für den die SPD 50 Jahre lang keinen Bebauungsplan hinbekommen hat, ein paar der dringend erforderlichen schmucken Bürohochhäuser stehen, wenn alle Punker im Gefängnis, alle Obdachlosen in leer stehenden Reedervillen an der Elbchaussee und alle illegalen Huren in Abschiebehaft sitzen, und wenn schließlich, um noch einen kleinen schwarzen Albtraum hinzuzufügen, unsere sexuellen Abarten per Hologramm auf dem Personalausweis vermerkt sind, dann können wir heimlich Wolfgangs Buch aus dem Regal nehmen, darin blättern und sagen: Scheiße, das war 'ne geile Zeit.
Ludwig von Otting war kaufmännischer Direktor des Thalia Theaters